Pensionierung

"Rentenalter könnte locker bei 72 liegen"

Was spricht dagegen, das Rentenalter zu erhöhen und laufend an die Lebenserwartung anzupassen? Ein Gespräch mit Katja Gentinetta, politische Philosophin und Wissenschaftlerin.

Portrait von Katja Gentinetta

Frau Gentinetta, wann ist für Sie der beste Zeitpunkt, um in Pension zu gehen?

Am liebsten nie. (lacht) Ich bin selbstständig und froh, dass ich das selbst entscheiden kann. Vermutlich werde ich so lange arbeiten wie ich kann. Meine Arbeit macht mir Freude.

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Als Selbstständige müssen Sie selbst, vorsorgen. Ein Nachteil?

Nein, selbst wenn ich mich ungern mit den Rechtsgrundlagen und der Administration herumschlage. Aber klar ist: Es braucht die private und die staatliche Vorsorge – und die AHV benötigt dringend Reformen!

Warum hat die Reform der AHV einen schweren Stand?

Ich sehe drei Gründe: politischer Unwille, mangelnder Druck und Opportunismus. Die Fakten sind klar: Wir leben immer länger und immer gesünder. Hätte man das Rentenalter seit Einführung der AHV an die gestiegene Lebenserwartung angepasst, könnte es heute locker bei 72 Jahren liegen. Nicht, dass ich das vorschlage. Aber der inzwischen nun schon ritualisierte Streit um das Rentenalter 65 für beide Geschlechter trifft den Kern der Sache nicht. Das Rentenalter muss für Frauen und Männer steigen – am besten sukzessive mit der steigenden Lebenserwartung. Die Parteien rechts und links lehnen eine Erhöhung aber strikte ab. Und die Wirtschaft kann sich zurücklehnen und auf die Politik verweisen. So kommen wir nicht vom Fleck.

Wo stehen wir heute?

Vor einem Schuldenberg, der immer grösser wird. Es dürfte so kommen wie bei der Invalidenversicherung: In der IV brauchte es ein Loch von zehn Milliarden, bis die Politik reagierte.

Wer bezahlt die Rechnung?

Die Jungen, die noch nicht abstimmen können oder ihren Stimmzettel nicht in die Urne werfen.

Welche Lösungen sehen Sie?

Wir können länger arbeiten, mehr einzahlen oder die Renten kürzen. Das Rentenalter muss steigen, daran führt kein Weg vorbei. Andere Länder haben entsprechende Schritte beschlossen: In Holland wird das Rentenalter bald bei 67 Jahren liegen, in Dänemark bei 68 und in Finnland bei 70 – und es wird sukzessive an die Lebenserwartung angepasst. Eine Schwelle von 65 ist nicht sinnvoll. Sie hat zur Folge, dass wir uns schon mit 50 fragen, wie wir die Pensionierung meistern. Das ist unsinnig und unproduktiv.

Warum ist das unproduktiv?

Wir unterschätzen, wie wertvoll das Know-how und die Erfahrung der älteren Arbeitnehmenden sind. Wir müssen uns fragen, wie wir ihre Fähigkeiten so lange wie möglich im Arbeitsmarkt behalten können. Zum Beispiel mit Weiterbildungen, die ihnen und ihren Arbeitgebern nützen.

Zur Person

Katja Gentinetta ist Lehrbeauftragte an den Universitäten St. Gallen, Zürich und Luzern. Sie ist Co-Moderatorin der NZZ Standpunkte und schreibt regelmässig für die NZZ am Sonntag. Sie referiert und moderiert im In- und Ausland.